Was eine „ungehorsame Frau" über Viagra denkt

BILD, 16.06.1998

 

Viagra - die Potenzbombe für den Mann, Sprengsatz für eine neue sexuelle Revolution? Und jetzt auch noch Blitz-Viagra, die Pille, die aus Schlaffis im Nu Stehaufmännchen macht.

 

Die Lustpille - Fluch oder Segen für die Frau? Die Bestseller-Autorin Annemarie Schoenle schreibt exklusiv in BILD, was sie darüber denkt. Ironisch und polemisch. Auf jeden Fall pointiert.

 

Annemarie Schoenle ist eine der gefragtesten Buch- und Drehbuchautorinnen Deutschlands - Gesamtauflage ihrer Romane rund eine Million. Der größte TV-Erfolg der gelernten Verwaltungsangestellten: „Die ungehorsame Frau" (mit Hauptdarstellerin Veronica Ferres) lockte über neun Millionen Zuschauer vor den Fernseher. Im April erschien ihr neuntes Buch „Frauen lügen besser" (BILD berichtete). Besonders Frauen lieben die kritisch-humorvolle Unterhaltungsliteratur der Bestseller-Autorin. Annemarie Schoenle ist mit einem Diplom-Mathematiker verheiratet, Mutter einer erwachsenen Tochter und lebt in Poing bei München.

 

Von ANNEMARIE SCHOENLE

 

O Schreck, seit drei Wochen bin ich schwanzgesteuert! Ich weiß nun wirklich alles über den sexualisierten Mann, über seine Lendenschwäche und die genitale Götzenverehrung. Ich habe mich auseinandergesetzt mit Versagensängsten, dem Phallus-Wahn und dauererigierten Lustgreisen. Ich kenne alle Synonyme für das kleine Ding, das sich zu voller Stärke aufrichten kann und doch manchmal schlapp zusammenbricht. Kurzum - ich weiß jetzt, was ich eigentlich immer wusste: Das Selbstverständnis vieler Männer scheint ihre Erektion zu sein.

 

Ich bin ein praktischer Mensch. Wenn man mir erzählt, eine Potenzpille verändere die Welt, integriere ich die frohe Botschaft in mein Alltagsleben und male mir die Wirkung aus. Da ist Duzfreund Willi. Verheiratet mit Olga. Willi leidet an nicht vorhandener Gliedsteife. Olga leidet mit ihm und nimmt sich notgedrungen einen jungen Liebhaber. Der hält sich für einen sexuellen Leistungsträger und lässt sich diese Tatsache in Rolex-Uhren entgelten. Willi, viagra-informiert, rennt zum Urologen. Kehrt zurück mit dem kostbaren blauen Diamanten in 50-Milligramm-Dosis. Vier Stunden Standby-Zeit. Olga ist begeistert. Willi auch. Der junge Liebhaber nicht. Seine Rolex-Uhren werden eingezogen. Er muss arbeiten gehen. Wird darüber impotent. Schlurft zum Urologen. Trifft auf Willi. Und erfährt, dass Willi nun eine junge Geliebte hat und sich die 100-Milligramm-Dosis leistet. Die eine Hälfte der Tablette für Olga, die andere für Jeanette. Jeanette? Der junge Liebhaber ist verzweifelt; denn Jeanette ist seine Freundin. Er stürzt sich vom Messeturm. Dort findet gerade ein Mediziner-Kongress statt. Viagra - wirklich das Glück für alle?

 

Oder Opa. Früher ein Sex-Maniac. Heute trägt er seine Prostata zum Urologen und kneift der Sprechstundenhilfe in den Po. Erfüllter Alterssex. Nun - potzblitz - die Phallus-Pille! Er löst sein Sparbuch auf. Wird zum Primaten. Belästigt die Zugehfrau. Erhält eine Anzeige wegen sexueller Nötigung. Jagt Oma durch die Räume. Oberschenkelhalsbruch. Oma im Krankenhaus. Opa verführt die mexikanische Lernschwester mittels Anblick seiner aufgerichteten Männlichkeit. Überlebt die sexuelle Performance nicht. Erleidet, herzgeschädigt, den schönen Tod. „Mors in Coitu." Die Lernschwester aber, strenge Katholikin, ist schwanger. Es wird ein Mädchen. Sie nennt es Viagra.

 

Und so sind wir beim Vatikan. Mitnichten: Wat den Eenen sin Uhl, is den Annern sin Nachtigall. Denn: Die weibliche Pille belebt die Libido und verhindert Nachwuchs - pfui. Die männliche blaue Pille dagegen bedeutet nur technischen Fortschritt und veranlasst die päpstlichen Schriftgelehrten nicht zu moralischen Bedenken. Man gibt der Hoffnung Ausdruck, dass nun die „Liebesvereinigung zwischen Ehepartnern fruchtbarer werde". Zwischen Oma und Opa? Und was ist, wenn FRAU die Pille schluckt, und MANN weiß es? Und wirft trotzdem einen kleinen erektionsfördernden Diamanten ein, um sich risikolos ein paar Stunden zu vergnügen? Wer tut unrecht? Lasst mich raten. Die Frau? Ob der Vatikan übrigens auch diamantenverseucht...? Nein, natürlich nicht! Obwohl - leisten könnten sie sich's.

 

Und nun die quotengeilen Fernsehbosse. Sie müssen umdenken. Die Werbezielgruppen, viagra-geschwellt, ändern sich. Der Tanga für den reifen Herrn. Das Deodorant für die Standby-Zeit. Verbilligte Doppelzimmer auf Mallorca mit einer Gratis-Blaupille pro Nacht. Die Guildo-Horn-Viagra-Party für Sechzigjährige. Piep, piep, piep, die nächsten paar Stunden haben wir uns alle lieb. Das Viagra-Kopfschmerzmittel, die getönte Brille gegen den Viagra-Blauschleier. Wow! Das von der TV-Werbung diskriminierte Alter und Mittelalter avanciert zur umschmeichelten Klientel. „Der Bergdoktor" wird wieder ins Programm genommen. Die aknebelasteten Sprachgestörten im „Marienhof", durch Erwachsene ersetzt, können endlich Schauspielunterricht nehmen. Inge Meysel und Johannes Heesters werden zum TV-Traumpaar des Jahres. Herr Kogel, geläutert, macht Reklame für die dritten Zähne.

 

Schön, nicht? Und wissen Sie, was ich tue? Ich schreibe einen neuen Roman. Über Erotik und Liebe, Zärtlichkeit und Verständnis. Mein Held wird sich nicht über Zentimeter definieren und wird nicht mit pillenerzeugten Brunstschreien in der Schlafzimmertür stehen. Er wird sein wie Sie. Oder Sie. Er wird sich genau überlegen, was er mit sich machen lässt und was er selbst macht, kurzum, er wird sich wie ein Mann benehmen und nicht wie ein wild gewordener Stier. Ich glaube nämlich im großen und ganzen an die männliche Vernunft. Enttäuschen Sie mich nicht!