Das Buch bald nicht mehr im Zentrum?
von Annemarie Schoenle
buchreport, August 1996
Wenn ein Kind lesen lernt, sagt man, eröffnet sich ihm eine neue Welt. Es beginnt, die Dinge besser zu verstehen und einzuordnen. Das Leben zwischen Buchseiten kennen zu lernen, sei prickelndes Abenteuer, sei bunter und aufregender als jeder Film.
Ja - aber weiß das auch das Kind? Denn der Leser, so heißt es andererseits, sei im Aussterben begriffen. Zwei Drittel aller Bundesdeutschen würden in wenigen Jahren ein Buch nicht einmal mehr in die Hand nehmen, würden zu Dauer-TV-Zuschauern mutieren, die -auch das weiß man - ohnedies ein gespanntes Verhältnis zum Buche haben.
Und doch schreiben die deutschen Autoren so emsig wie nie zuvor, die Verlagsprogramme werden immer umfangreicher, der Buchhandel klagt zwar über stagnierende Zahlen, eröffnet aber unverdrossen ein Buchkaufhaus nach dem anderen. Geht es dabei überhaupt noch um Qualität und Inhalte? Oder hat man dem großen Mediennachbarn „Fernsehen" über die Schulter geguckt und kräftig gelernt: Nur wo „seichte Ware" draufsteht, sind hohe Kaufquoten drin.
Ist also das Buch überhaupt noch im Zentrum unseres Denkens? Nein. Das Zentrum der meisten Menschen ist das Fernsehen. Und es ist müßig, an die Klagemauer zu eilen und zu lamentieren. Konstatieren wir: Zwei Märkte stehen sich gegenüber: der Buchmarkt und der audiovisuelle Medienmarkt. Beide Märkte könnten, rein theoretisch, eine friedliche Koexistenz führen. Aber, pardon, wie bringt man den Leser, sprich Käufer, dazu, Bücher zu kaufen und zu lesen, wenn er in seiner Freizeit in immer mehr Fernsehkanälen verschwindet, wenn seine Fähigkeit, Phantasie zu entwickeln, erlahmt und er süchtig wird nach vorgekauter Bilderkost?
Also muss es längst schon nicht mehr heißen: Nimmt uns das Fernsehen die Leser weg, sondern: Wie können wir die Leser, die wir haben, behalten, und die, die dem Buch den Rücken kehrten, zurückerobern? Und da der beste Weg immer auch Selbsterkenntnis bedeutet, geben wir zu, dass Strategien und Verhalten der Autoren, der Verlage und des Buchhandels sich in nichts von Drehbuchautoren, Filmfirmen und Fernsehanstalten unterscheidet. Alle wollen sie Geld verdienen, und Quantität siegt oft über Qualität. Und hier wie dort wird jedem etwas geboten. Der eine sucht den literarischen oder filmischen Hochgenuss, der andere will leicht, der nächste sogar seicht unterhalten sein. Die Verlage bieten Konsalik genauso an wie Grass, das Fernsehen das hochkarätige Fernsehspiel ebenso wie die „Traumschiffreisen". Das Buch hat seine fragwürdigen Bestseller-Listen, das Fernsehen die umstrittenen Einschaltquoten.
Fast zwangsläufig stellt sich dann die Frage: Wenn beide Medien inhaltlich das Gleiche bieten, was treibt den Leser fort? Und wie können wir die neuen Medien listig dazu benutzen, ihn wieder in unsere Arme zurückzuführen?
Geben wir's zu: Der durchschnittliche Leser will weder belehrt noch erzogen, er will gut unterhalten werden. Und was geschieht? Er schlendert in den Bücherladen, ins Bücherkaufhaus, steht zwischen Regalen und Stapeln und ist erschlagen von einer nicht enden wollenden Überproduktion. Umzingelt von immer mehr so genannten Bestsellern. Im Stich gelassen von genervtem Verkaufspersonal. Dem Leser schaudert. Er hätte es nämlich gern übersichtlicher. Er würde sich gern an einzelne Autoren gewöhnen. Er würde es begrüßen, mit diesen Autoren besser vertraut zu werden. Er wünscht sich keine genervten Verkäufer, sondern fachkundige, auskunftsbereite Menschen, die ihn respektieren. Er wünscht sich diese Menschen auch weniger herablassend, denn er ist es, der diese Herablassung finanziert. Er freut sich über Leseinseln, Sitzecken, Literaturcafés. Das Bücherkaufen soll in seinen Alltag integrierbar sein, soll sich eines fortschrittlich-gemütlichen Ambientes bedienen, soll ja nicht im elitären Flüsterton ertrinken.
Die neuen Medien aber wollen und können nicht bekämpft, sondern müssen mit einbezogen werden. Der Stoffhunger des Fernsehens beispielsweise bedeutet auch eine große Chance für den Buchhandel. Über den Film zum Buch -warum nicht? Die Auflagenzahlen steigen immens, der oft noch unbekannte Autor kommt in aller Munde, sein nächstes Buch wird besser geordert, besser verkauft -und dieses mal vielleicht bereits vor Erscheinen des Films gelesen.
Wenn man davon ausgeht, dass bereits ein Viertel der Deutschen über einen eigenen Computer verfügt, muss man zwangsläufig auch auf das Internet zu sprechen kommen. Literatur im Netz – noch winken viele Autoren und literarische Verleger ab. Es wird experimentiert, und Wege zeichnen sich ab, vor allem natürlich auf dem wissenschaftlichen Sektor. Aber auch Literarisches ist heute per Online ohne weiteres abrufbar. Dies bietet Vorteile: das Entdecken neuer Autoren, beispielsweise. Aber auch jedes andere beliebige Buch aus dem Internet auf den Computerbildschirm zu laden, ist längst nicht mehr nur Vision. Auch nicht der interaktive Hypertext-Roman, in dem der Leser per Maus sich durch Textseiten bewegt, mit Hyperlinks zu Querverweisen springt, die Handlungsebenen wechselt und eventuell sogar selbst ein eigenes Romanende bastelt. Ein grauenhafter Gedanke? Vielleicht. Vielleicht aber auch eine Chance. Denn unsere Kinder werden es sein, die darüber zu entscheiden haben, ob das Buch im Zentrum bleibt. Und die neuen beliebten Techniken könnten sie dazu bringen, sich wieder für Literatur zu interessieren: wenn spannende Geschichten, bebildert, mit Musik begleitet, auf CD-ROM erscheinen. Wenn sie sich durch Bücher genauso zappen können wie durch Filme. Wenn ihre Ungeduld, ihre Lust auf Bilderflut, befriedigt wird. Kann sein, sie bleiben dann an dem einen oder anderen Gedanken hängen, oder an einer überraschenden Wendung der Geschichte, vielleicht genügt ihnen dann der kalte Bildschirm nicht mehr, vielleicht wollen sie es plötzlich besitzen, in Händen halten, dieses Zauberwerk „Buch", vielleicht begreifen sie instinktiv die Sinnlichkeit, die darin liegt, ruhig, abgeschirmt lesend, sich in eine eigene Welt zu begeben, und vielleicht entwickelt sich dann aus dem „Lust-Lesen" der Wunsch, mehr und mehr davon zu kriegen und mit der Zeit sogar richtige „Lese-Arbeit" auf sich zu nehmen.
Auch Kino wurde einmal totgesagt, als das Fernsehen kam. Und es lebt noch immer und immer besser. Auch das Buch wird weiterleben. Durch nichts ist dieses starke Band, das sich zwischen Autor und Buch knüpft, zu ersetzen. Durch nichts die Bilder, die wir beim Lesen in unserem Kopf erschaffen, während die Bilder im Fernsehen immer mehr, immer greller, immer brutaler und die Geschichten immer stromlinienförmiger werden. Und wer weiß? Vielleicht erblüht in einigen Jahren, wenn wir des Zappens und Glotzens überdrüssig geworden sind, eine Renaissance des Buches? Ein neues Lebensgefühl. Ein Trend zum Guten, angepriesen in Zeitschriften, mit „Pfeil-aufwärts"-Richtung in „Leute von heute": Ein Mensch, friedlich ein Buch lesend, Musik hörend, und der Fernsehapparat verstaubt, wie früher die Bücher im Regal ...